Leseprobe aus "Tote Kinder spielen nicht"


Auf dem Weg zum Keller stieß er auf ein weinendes Mädchen im Treppenhaus. Ihr Gesicht mit der niedlichen Stupsnase verleitete die Lehrer bestimmt zu guten Noten. Wilhelm konnte sie damit nicht beeindrucken. Es gab keine niedlichen Kinder. Unter der niedlichen Schale steckten ausnahmslos schäbige Charaktere. Das Mädchen mochte vielleicht sechs Jahre alt sein, allerhöchstens acht. Ihre Jeans war neu und ohne Flicken, was keine Selbstverständlichkeit war. Mit angezogenen Knien lehnte sie an der Wohnungstür. Wilhelm konnte Schmidt auf dem selbstgebackenen Schild lesen. Entweder bunt angemalter Salzteig, oder aus Fimo-Knete geformt. Man versuchte das Leben trotz wirtschaftlich harter Zeiten so angenehm wie möglich zu gestalten. Allein das Viertel bedeutete schon einen sozialen Abstieg. Wenigstens die Kinder sollten nicht darunter leiden. Für Wilhelm war es eine dieser namen- und gesichtslosen Familien, die den Block bevölkerten. Das Kind hieß Cheyenne, wenn er nicht irrte. Wahrscheinlich träumte seine Mutter von einer Hollywoodkarriere. Oder wenigstens einer Statistenrolle in Unter uns.
„Warum weinst du denn so sehr?“
„Ich habe meinen Schlüssel vergessen. Und meine Eltern kommen erst abends von der Arbeit.“
„Magst du unten spielen gehen auf der Rutsche?“
„Ich habe Hunger, und mein Mittagessen steht im Kühlschrank. Wie soll ich da rankommen?“
Schlüsselkinder wurden früh in die Selbstständigkeit entlassen. Trotz ihrer jungen Gesichts drückte Cheyenne sich reifer aus als ihre Altersgenossen. Sie waren es gewohnt alleine zurechtzukommen. Oder aber sie trafen auf eine leere Wohnung voller Gespenster, und wärmten die Reste des Abendessens in der Mikrowelle auf.
„Ich wollte gerade Mittagessen kochen. Wie es aussieht, habe ich zu viel eingekauft. Ich werde Tage brauchen, um das alles aufzuessen. Es sei denn du hilfst mir dabei.“
Sie hatte zu schniefen aufgehört.
„Was gibt es denn?“
„Viel zu gesund, fürchte ich. Knusprige Hühnerflügel mit jungem Gemüse. Würde dir eh nicht schmecken. Aber ich habe noch eine Flasche Ketchup da.“
Ohne zu zögern stand das Mädchen auf, und schulterte ihren Schulrucksack. Wilhelm war kein Wildfremder, vor denen ihre Mutter sie immer gewarnt hatte. Was sollte ein Nachbar ihr schon Böses wollen? Wie Schlachtvieh trippelte sie hinter ihm her. Der offene Aufzug verschluckte sie wie der Rachen einer Bestie.

*

In der Wohnung roch es schlecht nach muffigem Hundefell. Darunter lag noch eine weitere Note: der erdige Geruch tierischer Ausscheidungen. Wenn ein Herrchen sein Tier vernachlässigt, und das Gassigehen vergisst. Cheyenne bereute dem Fremden gefolgt zu sein. Gelegentlich hatte sie ihn in der Wohnanlage gesehen, aber wie gut kannte sie Diehl wirklich? Wilhelm verstaute die Lebensmittel in der Küche. Klapperte mit Schubkästen und hantierte mit schwerem Küchengerät.
„Fühle dich wie zuhause.“
Unschlüssig stand sie im Flur. Gerahmte Fotografien des alten Manns an der Seite einer lächelnden Dame mit dicken Brillengläsern an einer goldenen Schmuckkette zierten die Wände. Dazwischen schimmernde Ikonenbilder von Bibelszenen, die sie aus dem Kindergottesdienst kannte. Die finsteren Mienen der Erzengel machten ihr Angst.
„Gefallen dir die Engel?“
„Geht so.“
„Der mit dem flammenden Schwert heißt Uriel. Wenn die Welt untergeht, wird er die Gerechten von den Ungerechten trennen.“
Von all den Dingen verstand das Mädchen wenig. Kalte Schauer liefen über ihren Rücken, der Flur war eindeutig nichts für sie. Der alte Mann hatte ihr angeboten, sich wie zuhause zu fühlen. Durch das Reliefglas ahnte sie das Wohnzimmer in vagen Schemen. Naserümpfend hielt sie den Griff in der Hand. Die Quelle des widerwärtigen Gestanks musste dahinter liegen.

*

Blaubarts Frau war um das verbotene Zimmer geschlichen wie eine Maus um den Käse. Und ein Leib Käse roch bestimmt besser als ein verwesender Leib Mensch. Schmierig aber waren sie beide. Das Mädchen stieß einen spitzen Schrei aus, und schlug die Hand vor den Mund. Wie ein Käfigvogel, dem die böse Miezekatze nachgestiegen war. Erstarrte sie, die Flügel fest gegen die Gitterwand gepresst. Auf dem gefliesten Boden lag der Körper eines kleinen Jungen. Die dünne Jacke mit dem Fußabdruck im Rücken kam ihr vom Sandplatz bekannt vor. War es der sanfte Max, der das Schäufelchen mit ihr geteilt hatte? Oder doch der garstige Frederick, der sie auf der Rutsche geschubst hatte? Weiße Äste wuchsen aus dem Leib. Mit Grausen registrierte sie, dass es gebrochene Rippen waren, die durch den Stoff der Jacke stachen. Dann spürte sie einen heftigen Schlag gegen den Hinterkopf, und ihre kleinen Lichter gingen für immer aus. Knochenfragmente perforierten ihre zarte Hirnhaut und lösten einen irreparablen Kurzschluss aus. Mit dem Gesicht voraus krachte sie auf den harten Fliesenboden und ihre Schneidezähne brachen knirschend, hinterließen dabei eine waagerechte Linie auf der Oberlippe. Mit ihrem letzten Atemzug verschluckte sie die Überreste ihres einst unbeschwerten Lächelns. Milchzähne wuchsen nicht mehr nach, wenn man dem Kind frühzeitig die Lichter ausknipste.
„Alleine schmeckt es sowieso besser. Den Rest kann ich einfrieren. Nicht wahr, Erika?“
Seine Hand mit dem Nudelholz zitterte. Gefangen im Schwung des Schlags rotierte die Walze auf ihrer Achse. Blut und Haare wurden in die Luft geschleudert und zauberten irre Muster auf die Wand. Hirn war auch dabei, schaumig geschlagen und rosa wie ein Erdbeer-Milchshake. Was sehr gut zum Steckrosendekor der Tapete passte. Jede Blume musste gegossen werden um in der Wildnis einer Schlachterwohnung zu überleben. Zwei übel zugerichtete Kinder lagen ausgestreckt vor der Anrichte. Wotan schnupperte am Neuzugang, und leckte ihr das Blut aus den Haaren. Unter Cheyenne breitete sich eine gehörige Lache aus. Das Blut des Jungen war getrocknet.

Nach diesem Kinderbuch schlafen die Kleinen. Für immer. Und immer. Und immer.
Als Taschenbuch und Ebook im Handel. Demnächst auch für Tolino.

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