Ausschnitt aus "Der Stadtkannibale"


Andreas saß in der elterlichen Küche, eine kühle Fanta vor sich. Kondenswasser perlte an der Glasoberfläche, Eiswürfel klirrten friedvoll. Das Quecksilber im Fenster zeigte bereits zwanzig Grad an; es versprach ein heißer Tag zu werden. Im Radio dudelte der Hitbox-Moderator die neusten Clubsounds zur Beachparty, die am Marktplatz stattfinden würde. Wenn sein Vater es ihm erlauben würde, so wollte Andreas mit ein paar Freunden hingehen. Ein heikles Unterfangen, aber er würde den alten Herrn schon einwickeln. Denn richtig abgehen würde die Party erst zu später Stunde. Aber waren nicht Sommerferien? Also Scheiß drauf, sagte sein Herz. In der Münztasche seiner ausgefransten Jeans hatte er ein paar Kaugummis eingesteckt. Das Herz eines Jungen schlägt unweigerlich für das Abenteuer. Er würde die Sandalen aus dem Wirrwarr im Boden seines Kleiderschranks puhlen, und an den Bach gehen. Die Flusskrebse studieren, und sich über die filigranen Muster wundern, die das Wasser in die Steine gespült hatte. Sein Vater kam im Unterhemd in die Küche, eine Zigarette baumelte ihm lässig im Mundwinkel.
„Heute mache ich einen Mann aus dir.“
„Hm?“
„Wirst schon noch sehen. Eine Überraschung.“
Mit dem großen Transporter ging es hinaus aufs Land. Duftige Salbeilandschaften zogen an ihnen vorbei. Bienen summten, irgendwo bellte ein Hund. Zwischen langen Alleen sprenkelte die Sonne ihre Gesichter. In der Luft lag die freudige Erwartung eines perfekten Sommertages. Ein Junge und sein Vater, die einen Ausflug machten. Der Wind des offenen Seitenfensters zerzauste Andreas Haare.
„Ist es noch weit?“
„Gleich da vorne. Siehst du den Schopf?“
„Ein paar Schindeln sind lose, Papa. Waren wir schon einmal hier?“
„Als du noch viel kleiner warst, ja. Ich dachte nicht, dass du dich erinnern würdest.“
„Da waren andere Kinder, mit denen habe ich im Maisfeld verstecken gespielt.“
„Dein Vater kommt jede Woche hierher, um Nachschub zu holen.“
„Du meinst Fleisch?“
„Bevor wir Fleisch essen können, ist es ein lebendiges Tier. Ach, die Jugend von heute! Wir kannten keine Supermärkte, als wir klein waren! Uns konnte niemand vormachen, eine Kuh wäre lila.“
Andreas sah betreten zu Boden.
„Entschuldigung.“
„Brauchst dich nicht für entschuldigen, Kleiner. So ist die moderne Welt eben. Aber solange du dich an deinen Vater hältst, lernst du ein paar der guten alten Werte. Und nun hopp, wir werden erwartet.“
Hinter ihnen fiel die Wagentür scheppernd ins Schloss. Andreas fiel auf, wie alt und runtergewirtschaftet ihr Sprinter war. Die Verkleidung der Türen hing an einigen wenigen, nicht abgebrochenen Kunststoffzapfen. In den Flanken sammelte sich Rost, wie eine krebsartige Geschwulst. Ein treuer Muli, der in die Jahre gekommen war. Schwäbische Sparsamkeit gehörte zu den Tugenden, die sein Vater ihn lehrte.
Aus der Scheune kam ein Stallhund angekläfft, mit Weizenspreu im Fell. Aufgeregt sprang er an den Beinen hoch, doch Andreas war nicht zum Spielen zumute.
„Erwin, pack deine dumme Töle weg!“
Aus dem Wohnhaus kam ein wettergegerbter Bauer, einen dunkelbraunen Filzhut keck in den Nacken geschoben. Zwischen seinen schmalen Lippen glimmte eine selbstgedrehte Zigarette. Er nickte dem Jungen freundlich zu, und schüttelte dem Vater die Hand. Andreas bemerkte gelbe Nikotinschwielen.
„Schön, dich zu sehen. Groß geworden, dein Sohn. Letztes Mal ging er mir gerade mal bis hier.“
Mit der flachen Hand deutete er Andreas alte Größe an. Dann lachte er, und fuhr ihm durchs Haar.
„Sind die Sauen schon soweit?“
„So bereit, wie eine Sau halt sein kann. Die haben schon ihr Testament gemacht.“
Der Alte kicherte unbändig über seinen kleinen Scherz. Wie Kies, der unter den Halbschuhen knirscht. Andreas hingegen zog die Nase kraus, als sie sich den Schweinekoben näherten.
„Riecht ein wenig streng, was? Nun, wir Menschen pissen auch nicht gerade Rosenwasser.“
„Geh dir eine aussuchen, Junge.“
„Ich nehm die da vorne.“
„Gutes Augenmaß, die hat ordentlich Speck auf den Rippen. Kennst dich halt aus mit Fleisch.“
„Wie der Vater, so der Sohn. Und nun mach mich stolz.“
„Alleine wird er's wohl nicht schaffen. Die Sau reißt ihn sicher zu Boden.“
„Gib mir mal ein Seil. Ich lege es der Sau um den Hals, dann können wir sie raus in den Hof zerren.“
„Besser ist. Wenn sie quieken, wird die Herde unruhig. Nicht dass mir wieder eine vor lauter Stress den Schnapper macht.“
Doch eine Sau einzufangen, die ihr baldiges Ende schon schnuppern konnte mit ihrem dicken Rüssel, war schwer beizukommen. Quiekend nahm sie vor den beiden Männern Reißaus, während Andreas sich bedeckt hielt. Sie hatten ihn nicht um Hilfe gebeten. Und Erwachsenen ins Handwerk zu pfuschen schien selten eine gute Idee. Wie schnell galt man doch als Naseweis!
Nach einigen Runden zähen Ringens hatten Erwin und sein Vater die Sau an der Leine, und zerrten sie in den Hof.
„Steh nicht so dumm rum, schnapp dir den Zinkeimer!“
Sein Vater saß nun rittlings auf der Sau, und drückte sie mit seinen Oberschenkeln in den Boden. Auf seiner Stirn traten Adern hervor, die man selten sah. Es kostete ihn sichtlich Mühe, die Sau zu halten. Und doch lächelte er seinem Sohn zu.
„Diese ist für dich. Mach mich stolz.“
Erwin zog ein Jagdmesser aus seinem Gürtel und reichte es Andreas. Der harte Stahl der Klinge funkelte in der Mittagssonne.
„Sie wird mich beißen.“
„Du musst unterm Kinn ansetzen; dort, wo die zwei Hautlappen zusammenlaufen. Der Trick dabei ist, nicht zu zaudern. Zieh die Klinge einfach bis zur anderen Seite rüber.“
Andreas zitterte. Nicht vor Angst, sondern vor Erregung. Unter seiner Knabenhose spannte sich ein gewaltiges Zelt. Wenn es die beiden Männer mitbekamen, so sahen sie geflissentlich darüber hinweg. Oder erinnerten sich wehmütig an ihre erste Sau. Und das Gefühl von Macht, welches in den Fingerspitzen kribbelt, und sich bis in die Lenden ausbreitet. In den Augen des Tieres brach das Licht, wie eine verlöschende Kerze. Am anderen Ende des Tunnels stand Andreas, die Augen zu konzentrierten Schlitzen gepresst. Unter seiner Hand quiekte das warme Tier, und bäumte sich unter dem festen Griff von Erwin und seinem Vater. Bereitwillig gab das zarte Fleisch nach, Erwin hielt sofort den Zinkeimer darunter. Der Geruch von Blut stieg ihm urplötzlich in die Nase, schwer und bleiern. Er empfing ihn wie eine heilige Kommunion.
„Gut hast du das gemacht. Wichtig ist, das Blut aufzufangen, solange es noch warm ist. Wenn es einmal im Körper stockt, ist das Fleisch verdorben. Außerdem kann man Blutwurst daraus herstellen.“
Andreas hörte kaum zu. Adrenalin jagte durch seinen Körper wie Autos auf einer Rennbahn. Man musste töten, um sich so lebendig zu fühlen. Sein Arm ging wieder nach oben, um mit einer gezielten Geste in den Rippen der Sau zu landen.
„Nicht so stürmisch, kleiner Mann. Hilf uns, sie hochzuziehen.“
„Warum?“
„Stell dir die Sau als einen nassen Lappen auf der Wäscheleine vor.“
„Ein roter Lappen.“
„Meinetwegen. Jedenfalls läuft die Flüssigkeit besser nach unten ab.“
„Okay, Papa.“
Zusammen banden sie der Sau ein Hanfseil um die Füße, und zogen sie an der Teppichklopfstange hoch. Die Szene erinnerte ihn unwirklich an den Waschtag, wenn er Mutter half, die Wäsche aufzuhängen. Mittlerweile war seine Erektion abgeklungen, nicht aber die Erinnerung daran, wie die Klinge durch das Fleisch geglitten war. Erwin war im Wohnhaus verschwunden, ein paar Eiswürfel für den Bluteimer holen. Mücken schwirrten in der Luft, und heute Abend würden ihre Stiche tierisch jucken. Eine Katze streunte schnurrend um seine Beine, um sich auf einem gelben Grasflecken einzurollen. Andreas war zum Mann geworden.

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