Ausschnitt aus "Racheblitz"
Stille in der Bücherei. Die letzten Leser waren geflüchtet, nicht brandschatzend aber plündernd, trugen sie so viele Bücher unter den Armen, wie sie gerade tragen konnten. Das Schuhgeschäft auf der anderen Straßenseite stand in Flammen. Schüsse und Schreie erfüllten die Luft.
Bibliotheksleiter Heidemann hatte sich bei seinen Mitarbeitern für ihre jahrelange Treue bedankt. Der eine oder andere hatte ihn mit unverhohlenem Hohn angesehen. Ein intelligenter Tyrann kannte seine Feinde. Widerspenstig waren sie gewesen. Wie oft mussten neue Regelungen mit Sanktionen und Gehaltsabzügen durchgesetzt werden? Über jeden führte er Listen. Wer vergaß, ein Buch abzustempeln. Wer die Spülmaschine im Gemeinschaftsraum nicht ausräumte. Wer Mahnungen vergaß. Jeder Fehler geahndet mit einem Abzug von fünf Euro am Bruttogehalt. Anfangs protestierten sie. Nur zaghaft. Dann nahmen sie es hin. Dumme blökende Masse, die sich lenken ließ. Heidemann gab sich voll und ganz seiner Machtposition hin. Wahre Dankbarkeit erwartete er von keinem von Ihnen. Dabei formte er ihren Charakter.
In Krisensituationen wie diesen war die Bücherei geschlossen. Zuletzt war das bei dem großen Hochwasser 1988 der Fall gewesen, bei dem weite Teile der Innenstadt für mehrere Tage unpassierbar waren. Mit Sorgen beobachtete er den unablässig fließenden Regen, der seine Schätze bedrohte. Er würde bei der Feuerwehr anrufen und um eine Sonderzuteilung Sandsäcke bitten. Auf ihn würden sie hören. Sein Wunsch hatte im allgemeinen Notfallplan Priorität. Es ging um das kulturelle Erbe der Stadt! Gerade als er den Telefonhörer ergriff, stellte er fest, dass er nicht alleine war. Überrascht drehte er sich um.
„Kanecker? Was wollen Sie denn noch hier? Sie können nach Hause gehen.“
„Und wenn ich das gar nicht will?“
„Ich verstehe Sie nicht ganz.“
„Oh doch, sie verstehen mich genau richtig.“
Heidemann bemerkte das nervöse Zucken im Mundwinkel Kaneckers. Wie hatte er diesen Abtrünnigen jahrelang an seiner Brust säugen können und nicht bemerken, was sich in ihm anbahnte? Angst gehörte üblicherweise nicht zu Heidemanns Gefühlsrepertoire. Überlebenswillen schon. Auf seine Instinkte vertraute er. Er warf sich zu Boden und rollte sich seitwärts hinter den Ausleihtresen, so dass Kaneckers erster Schuss nur einen Bildschirm der EDV zum erlöschen brachte.
„Zeig dich du feige Sau!“
Heidemann erinnerte sich an sein Bundewehrtraining und robbte um sein Leben. Dies war die Kampfzone, auf die man sie alle eingeschworen hatte. Nicht in Laub und Morast, wie man ihnen glauben machen wollte, sondern in Staub und Linoleum. Am Ende des Tresens führte eine Treppe in den Keller, wo die Mikrofilme archiviert wurden. Und zum Personalausgang. Wenn er es bis dahin schaffen könnte, wäre Heidemann in Sicherheit.
„Kriechst vor mir wie ein Wurm? Glaubst ernsthaft, du könntest deinem Schicksal entrinnen?“
Deswegen hatte Heidemann ihn nie als gefährlichen Gegner wahrgenommen. Wegen seiner gespreizten Sprache. Zu brav und bieder der Mann. Wie man sich doch täuschen konnte.
Dies waren seine letzten Gedanken, als Kanecker ihn aufspürte und mit mehreren Schüssen zur Strecke brachte. Blut aus seiner zerfetzten Halsschlagader spritzte über das schwarze Brett, der Aushang vom Betriebsausflug verwandelte sich in ein modernes Kunstwerk aus roten und schwarzen Klecksen.
*
In der Südstadt hing am Eingang eines Mehrfamilienhauses im schmucklosen Baustil der siebziger Jahre ein Schild: Die Welt geht unter aber wir haben Spaß! In der berüchtigten Lasterhöhle von Schnittenuwe, der den Traum der Playboy-Mansion in Gelsenkirchener Barock wiederauferstehen ließ, wälzte sich ein Ungetier mit vielen Armen und Beinen. Wer die Paarungsknoten der Amazonasschlangen mit eigenen Augen gesehen hatte, hätte sich in diesem Wirrwarr bestimmt zurechtgefunden. Uwe war nie am Amazonas gewesen, wozu auch? Er war buchstäblich im Himmel gelandet. All die frigiden Punzen, die nie ein Auge auf ihn geworfen hatten, prügelten sich jetzt um ihn. Endlich würde er sein rotes Büchlein vollkriegen. Die Landesmeisterschaft im Matratzenslalom. Stand kurz bevor. Ächzend quetschte er sich aus dem Menschenhaufen, unter dem er seit dem Morgen begruben lag. Seine Eier taten weh und er musste pissen. Wie oft war es ihm gekommen seit dem Begin des Unwetters? Er vermochte es nicht mehr zu sagen und es war ihm auch reichlich egal. Mochte die Welt da draußen untergehen, ihm ging es besser denn je zuvor. In der Küche stand Elli und brühte Kaffee auf. Für sich und Uwe und all die Erschöpften dieser Welt. Eigentlich hatte sie nur Unterschlupf gesucht vor dem Regen. Ihre Neugier hatte sie die Stiegen erklimmen lassen. Als sie die Tür öffnete, schreckte sie das Menschenknäuel nicht ab, im Gegenteil. Sie spürte, wie ihr die Säfte im Höschen zusammenliefen. Das war es, wovon sie immer geträumt hatte. Die nächsten Stunden waren ein stetes kommen und gehen, mit Müh und Not vermochte sie die Gesichter zu zählen. Es kamen Männer und Frauen. Die meisten von ihnen waren verdreckt, als wären sie in den Pfützen oder der Flut zu Fall gekommen. Laub klebte an ihren Wangen, Schlamm in den Haaren. Schnitten-Uwes Schlafzimmer verwandelte sich zusehends in eine Schlammgrube. Wenn sie aufstanden, ließen sie oft die nassen Klamotten da liegen, wo sie waren und gingen wie in Trance ihres Weges. Elli schauderte. Der Regen hatte ihre menschlichen Züge abgespült. Nun wurden sie wieder Neandertaler, die sie einst waren.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen